Jüngere Menschen schneiden in Intelligenztests kontinuierlich besser ab als Angehörige älterer Generationen. Diese Entdeckung machte der Intelligenzforscher James R. Flynn im Jahr 1984. Der nach ihm benannte Flynn-Effekt beschreibt dieses Phänomen.
Doch werden die Menschen tatsächlich immer schlauer? Hier erfahren Sie, was es mit dem Flynn-Effekt auf sich hat.
Der Flynn-Effekt – eine Definition
Der Neuseeländer James R. Flynn ist Professor für politische Studien. Als er 1984 den Intelligenzquotienten (IQ) verschiedener US-amerikanischer Generationen miteinander verglich, machte er eine überraschende Entdeckung: Der IQ-Wert stiegt von Generation zu Generation an. Pro Jahr nahm er um etwa 0,3 Prozentpunkte zu.
Weitere Studien bestätigten diesen Effekt. Insbesondere ließ er sich in Ländern beobachten, in denen junge Männer bei ihrer Musterung einen Intelligenztest ablegen mussten. Flynns Untersuchungen zufolge stieg der IQ-Wert in einem Land ungefähr alle 30 Jahre und nahm pro Generation um 20 Punkte zu.
Die beobachtete Entwicklung erhielt schließlich den Namen Flynn-Effekt. Die Wissenschaft trägt ihm Rechnung, indem IQ-Tests regelmäßig nachjustiert werden. So liegt der durchschnittliche IQ weiterhin bei 100.
Info-Box: Was messen eigentlich Intelligenztests?
Im Jahr 1904 entwickelten Alfred Binet und Theodore Simon den ersten Test, um die menschliche Intelligenz zu normieren. Der dabei ermittelte Wert wird als Intelligenzquotient oder kurz als IQ bezeichnet. Was genau unter dem Begriff Intelligenz zu verstehen ist, ist allerdings bis heute umstritten. Allgemein bezeichnet Intelligenz die Fähigkeit einer Person, sich an neue Situationen anzupassen und Probleme durch Nachdenken zu lösen. Diese Fähigkeit gliedert sich jedoch in unterschiedliche Teilbereiche wie Auffassungsgabe, logisches Denken oder verbale und Handlungsintelligenz. Es existieren daher eine ganze Reihe von IQ-Tests, die verschiedene Teilbereiche abdecken.
Mögliche Ursachen für den Flynn-Effekt
Der Flynn-Effekt zeigt sich in Studien vor allem in nonverbalen Tests, die kulturelle Einflussfaktoren reduzieren sollen. Doch woran liegt es, dass die IQ-Werte von Generation zu Generation steigen?
Wissenschaftlicher Konsens besteht in dieser Frage nicht, viele Forscher sehen die Entwicklung aber durch verbesserte Umweltbedingungen begründet:
- Verstärkte Investitionen ins Bildungssystem, Schulung des abstrakten Denkens, bessere Vorbereitung auf IQ-Tests
- Bessere Ernährung und Gesundheitsversorgung
- Breiterer Zugang zu Massenmedien
- Heterosis-Effekt: Durch zunehmende Urbanisierung und erhöhte Mobilität haben unterschiedliche Gruppen mehr Kontakt zueinander
Geschlechterdifferenz
Der Flynn-Effekt scheint sich auf Männer und Frauen unterschiedlich ausgewirkt zu haben. Seit Beginn der Intelligenznormierung lagen Frauen in IQ-Tests um bis zu fünf Prozentpunkte hinter den männlichen Kandidaten zurück. Flynn beobachtete allerdings, dass sich die Ergebnisse langsam angeglichen haben.
Der IQ von Frauen stieg damit schneller als der IQ von Männern. Im Jahr 2012 lagen die Testergebnisse der Frauen in bestimmten Ländern erstmals über dem Durchschnitts-IQ der Männer.
Zweifel und Kritik
Werden wir Menschen tatsächlich immer schlauer? Die Wissenschaft sieht den Flynn-Effekt durchaus kritisch. Flynn selbst zweifelte daran, dass Menschen in den 1980er-Jahren zwangsläufig intelligenter waren als ihre Vorfahren.
Der größte Kritikpunkt besteht in der Aussagekraft der IQ-Tests selbst. Den Kritikern zufolge messen diese Tests nicht die tatsächliche kognitive Leistung, sondern individuell trainierbare Fähigkeiten wie etwa abstraktes Denken oder die Fähigkeit, verschiedene Bilder in einen bestimmten Zusammenhang zu setzen. Viele jüngere Menschen kennen solche Aufgaben aus ihrem Alltag und können sie entsprechend leicht lösen.
Intelligenzforscher sind sich daher einig, dass der Flynn-Effekt keineswegs einen Beweis für eine allgemein steigende Intelligenz der Menschheit darstellt. Vielmehr belege er, dass jüngere Generationen anders an Problemstellungen herangehen als ältere. Durch ihre Lebensbedingungen sind sie besser an bestimmte Herausforderungen angepasst.
Der Anti-Flynn-Effekt: Dreht sich die Entwicklung um?
In den ersten Jahren nach 1984 konnten weitere Studien den Flynn-Effekt bestätigen. Der Anstieg des IQ-Werts ließ sich nicht nur in den Industrienationen beobachten, sondern auch in Schwellen- und Entwicklungsländern. Zum Teil stieg der IQ der Bevölkerung dort sogar schneller an.
Seit 1995 scheint sich die Entwicklung in den Industrienationen jedoch umzukehren: Der durchschnittliche IQ jüngerer Generationen sinkt.
Bei der Suche nach Ursachen gehen Forscher von verschiedenen Theorien aus:
Sättigung: Der Einfluss einer besseren Ernährung, Gesundheitsvorsorge und Bildung lässt sich ab einem gewissen Punkt nicht mehr weiter steigern. Entsprechend steigt auch der IQ nicht mehr weiter an.
Schadstoffe: Die steigende Umweltverschmutzung, unter anderem durch Schadstoffe mit hormonähnlicher Wirkung, führt zu Veränderungen im Gehirn.
Veränderte Rahmenbedingungen: Änderungen in der Bildungspolitik führen dazu, dass jüngere Menschen in bestimmten IQ-Tests schlechtere Ergebnisse erzielen. In Deutschland nimmt beispielsweise das räumliche Vorstellungsvermögen ab, während sich die Ergebnisse bei Vokabeltests und allgemeinen IQ-Tests verbessern. In Dänemark besuchen weniger Schüler das Gymnasium, in Folge werden weniger Schüler auf IQ-Tests vorbereitet.
Flynn selbst geht davon aus, dass der steigende gesellschaftliche Wohlstand und ein Überangebot an unterschiedlichen Reizen für den Anti-Flynn-Effekt verantwortlich sind.
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