Tarifautonomie

Die Bahn steht mal wieder still, nichts geht mehr: Streik. Für Fahrgäste ist das ärgerlich, aber ein erlaubter und wichtiger Teil des Arbeitskampfes in Deutschland.

Das Grundgesetz legt fest, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Lohn- und Arbeitsbedingungen weitgehend ohne Eingreifen des Staates selbst festlegen können. Dieses Prinzip bezeichnet man als Tarifautonomie. Hier bieten wir Ihnen eine kurze Einführung ins Thema.

Ein kurzer historischer Überblick

Die Tarifautonomie sichert Gewerkschaften und Arbeitgebern bzw. deren Verbänden das Recht zu, unabhängig von staatlicher Einflussnahme verbindliche Verträge miteinander zu schließen. Tarifverträge regeln die Einzelheiten des Arbeitsverhältnisses, vom Lohn bis zu den Arbeitszeiten.

Weiterhin gewährleistet die Tarifautonomie, dass der Staat bei Streitigkeiten zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern nicht eingreift. Zur Klärung sind allein die Arbeitsgerichte befugt. Grenzen sind der Tarifautonomie durch gesetzliche Mindestbestimmungen zum Schutz der Arbeitnehmenden gesetzt. So müssen Tarifverträge zum Beispiel den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch berücksichtigen.

Der Grundstein für die Tarifautonomie wurde im Jahr 1861 gelegt: Das Königreich Sachsen erlaubte erstmals, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich zur Wahrung ihrer Interessen zu Koalitionen zusammenschließen durften.

Es bildeten sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die sich im sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918 gegenseitig anerkannten. Dieses Abkommen bildet die Grundlage für das heutige Tarifsystem.

Während des Nationalsozialismus fand die Tarifautonomie ihr vorläufiges Ende. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die mit der Tarifautonomie einhergehenden Freiheiten und Rechte als demokratische Grundrechte verfassungsrechtlich abgesichert. Das Grundgesetz definiert die Koalitionsfreiheit, also das Recht, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber Interessenvertretungen bilden dürfen (Art. 9, Abs. 3, Satz 1 GG).

Das Tarifvertragsgesetz legt die Grundlagen für Tarifverträge fest. Für Streiks und Aussperrungen gibt es keine unmittelbaren gesetzlichen Vorgaben. Einzelheiten entscheiden die Arbeitsgerichte.

Tarifverhandlungen und Arbeitskampf

Heute setzen sich in Deutschland eine Vielzahl von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden für die Interessen ihrer jeweiligen Branche ein. Um miteinander einen Tarifvertrag abschließen zu können, müssen beide Parteien einige Voraussetzungen erfüllen.

Die Koalitionen müssen frei gebildet und demokratisch sowie überbetrieblich organisiert sein, unabhängig von der Gegenseite, von Kirchen, Parteien und Staat agieren und über ausreichend Einfluss verfügen, um Druck auf die Gegenseite ausüben zu können.

Tarifverträge gelten nur für einen gewissen Zeitraum. Zum Ende der Laufzeit können die Einzelheiten neu ausgehandelt werden. Die Verhandlung mit den Arbeitgebervertretern obliegt den Gewerkschaften. Zeigt sich die Gegenseite dafür nicht bereit oder können sich die Parteien auch nach mehreren Verhandlungsrunden nicht einigen, kommt es zum Arbeitskampf. Streiks sind dabei erst nach Ende der Laufzeit eines Tarifvertrags erlaubt. Bis dahin gilt Friedenspflicht.

Arbeitgebern steht im Arbeitskampf das Mittel der Aussperrung zur Verfügung. Das bedeutet, sie dürfen Beschäftigte aus dem Betrieb aussperren. In der Praxis machen sie davon aber kaum Gebrauch.

Spielregeln für den Arbeitskampf

Der Arbeitskampf in Deutschland unterliegt gewissen Spielregeln. Streiks dürfen nur im Rahmen aktueller Tarifauseinandersetzungen stattfinden und müssen von Gewerkschaften organisiert werden. Politische Streiks oder ein Generalstreik sind gesetzlich untersagt. Der Streik muss zudem verhältnismäßig sein. Arbeitgeber dürfen die Verhältnismäßigkeit durch das Arbeitsgericht prüfen lassen.

Eine weitere Voraussetzung: Vor dem Streik müssen Gewerkschaften ihre Mitglieder befragen. Damit gestreikt werden darf, müssen mindestens 75 Prozent der Mitglieder zustimmen. Kommt es zu einem Verhandlungsergebnis, erfolgt eine weitere Abstimmung zum Ende des Streiks. Hierbei reichen 25 Prozent Zustimmung aus. Führt der Arbeitskampf nicht zu einer Einigung, kann ein Schlichtungsverfahren angestrengt werden.

Vorteile und Nachteile der Tarifautonomie

Eine Folge der Tarifautonomie ist es, dass deutsche Beschäftigte vergleichsweise selten streiken – etwa deutlich seltener als ihre Nachbarn in Frankreich. Dort gilt das Individualrecht. Streiks müssen nicht von Gewerkschaften beschlossen werden.

Tarifverträge ermöglichen es zudem, komplexe Themen rechtssicher zu regeln, und stärken damit den Betriebsfrieden. Da sie die Arbeitsbedingungen für den gesamten Betrieb oder gar die ganze Branche festlegen, müssen Arbeitgeber diese Bedingungen nicht mit jedem einzelnen Beschäftigten aushandeln.

Durch sogenannte tarifliche Öffnungsklauseln bieten sie dennoch ausreichend Flexibilität, um auf wirtschaftliche Entwicklungen zu reagieren, zum Beispiel durch die Senkung von Einmal- und Sonderzahlungen.

Genau diese Vorteile können jedoch auch zum Nachteil werden. Aufgrund der Friedenspflicht können sich Arbeitnehmer nicht während des laufenden Tarifvertrags für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen. Individuelle Gehaltsverhandlungen sind ebenfalls nicht möglich. Schließlich bieten Tarifverträge mit ihren festgeschriebenen Entgeltgruppen geringere Aufstiegsmöglichkeiten.

Wie denkt die Öffentlichkeit über Streiks?

Bei der Tarifautonomie und dem Recht zum Streik handelt es sich um ein hohes demokratisches Gut. Der Arbeitskampf wird von der Mehrheit der Bevölkerung in der Regel auch positiv aufgenommen. Es gibt allerdings Ausnahmen.

Als im Jahr 2013 Beschäftigte im Einzelhandel ihre Arbeit bis zu 99 Tage lang niederlegten, führte das zwar zum Verhandlungserfolg mit der Arbeitgeberseite, wurde von der Öffentlichkeit aber kaum wahrgenommen.

Anders bei den Bahnstreiks im Dezember 2023. Erst Schneechaos, dann Streik – und das mitten im Advent: Viele Fahrgäste waren mit der Geduld am Ende. Kritik kam unter anderem vom Fahrgastverband PRO BAHN e.V. und sogar von Meteorologen. Unmut wird also gerade dann laut, wenn der Streik zu großen Einschränkungen führt – was aber wiederum den Druck auf die Arbeitgeber erhöht.

Urheber des Titelbildes: radowitz/ 123RF Standard-Bild